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Ostergrüße aus Oberhavel

Osterspaziergang ohne Kontakt

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FOTOS: HEIKE LYDING/ IMAGO IMAGES/ EPD

Potsdam. Welche Gefühle mit Ostern verbunden sein können, ist wohl nirgends sonst besser nachzulesen, als in Johann Wolfgang von Goethes Osterspaziergang: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche – Durch des Frühlings holden, belebenden Blick – Im Tale grünet Hoffnungsglück – Der alte Winter, in seiner Schwäche – Zog sich in rauhe Berge zurück.“ In den Zeilen ist es zu spüren: Die Natur erwacht, das Leben pulsiert wieder.Doch wie gültig sind diese Schilderungen aus dem 1808 veröffentlichten „Faust“-Drama heute noch? Einen Winter hatten wir in diesem Jahr fast nirgendwo in Deutschland. Kein Schnee, der schmelzen könnte. Büsche und Bäume sind schon Wochen früher als üblich ergrünt. Vom Eise befreit, was soll das heißen, fragen sich Jüngere. Der Klimawandel kann offenbar dazu führen, dass auch Literatur schwerer zu lesen ist. Darüber hinaus fehlt den meisten Menschen heute die Erfahrung der winterlichen Enge und Bedrängnis, wie sie zu Goethes Zeit selbst wohlhabende Familien noch erlebten: „Jeder sonnt sich heute so gern – Sie feiern die Auferstehung des Herrn – Denn sie sind selber auferstanden – Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern – Aus dem Druck von Giebeln und Dächern“. Enge, Kälte, Dunkelheit – all das erleben wir heute kaum noch in unseren geräumigen, gut beheizten und beleuchteten Wohnungen. Goethe saß in seinem Haus in Weimar im Winter noch bei Talg- oder Wachslichtern und musste, wenn er abends durch die Straßen der Residenzstadt ging, wegen oft fehlender Straßenbeleuchtung eine Handlampe mitnehmen. Wir können uns das heute kaum noch vorstellen. Nicht nur, dass bei uns in jedem Raum meist viele Lampen hängen. Viel Zeit verbringen wir auch vor Bildschirmgeräten, die selbst im Winter mitunter grüne Landschaften oder Urlaubsstrände zeigen.

Mit Goethe in Zeiten von Corona und Klimawandel

Keine Frage, ein Ostererlebnis wie in der Vergangenheit ist heute kaum nachvollziehbar. Am ehesten noch ist im Garten zu spüren, wie die Ruhezeit der Natur endet und die Lebenskräfte explodieren, sobald der Boden sich genügend erwärmt hat. Wer sich die Zeit nimmt und aufmerksam die Pflanzen beobachtet, ist von dieser Veränderung noch heute überwältigt.

Andererseits haben wir im Frühjahr 2020 andere Sorgen als fehlende Frühlingsgefühle. Das Coronavirus hat die Welt fest im Griff und hält die Menschen in ihren Wohnungen gefangen. Immerhin: Wer einen Garten hat, kann ohne Bedenken hinausgehen und dort die Sonnenstrahlen genießen, während wir beim Osterspaziergang im Wald oder auf den Feldern immer darauf achten müssen, keine zu nahen Begegnungen mit anderen Menschen zu haben. Im eigenen Garten können Kinder spielen und Ostereier suchen. Die Unbeschwertheit aber ist dahin.

Und damit sind wir wieder bei Goethes Osterspaziergang. Denn im weiteren Fortgang von Fausts Wanderung mit seinem Schüler Wagner vor den Toren der Stadt, noch bevor ihnen jener schwarze Pudel begegnet, der später als Mephisto zu Fausts Gegenspieler wird, berichtet der Meister von einer Pest-Epidemie, in der er als junger Mann miterleben musste, wie sein Vater die hilfesuchenden Menschen mehr vergiftete, als dass er ihnen half: „Hier war die Arzenei, die Patienten starben – Und niemand fragte, wer genas?“. Die Angst vor immer wiederkehrenden Wellen der Pest steckte in den Menschen. Und hier können wir uns als Heutige, die ebenfalls mit einem unberechenbaren Erreger konfrontiert sind, plötzlich ein wenig mit den Gefühlen dieser Menschen aus der Faust-Erzählung identifizieren, die den Frühling auch deshalb so sehr genießen, weil sie den Winter gesund überstanden haben.

Wenn es dann hoffentlich bald zu einer Corona-Entwarnung kommt und zumindest die wesentlichen Einschränkungen aufgehoben werden, haben auch wir vielleicht noch unser Ostererlebnis, drängen hinaus aus unseren Wohnungen, die uns eng geworden sind – und denken dabei vielleicht an Fausts Worte: „Zufrieden jauchzet Groß und Klein – Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Von Ulrich Nettelstroth