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Dem Dorf Lütkenwisch ein Denkmal setzen

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Kerstin Beck auf dem Deich in Lütkenwisch. FOTO: privat

Lütkenwisch. Es ist ein Buch, das „das triste, eintönige, langweilige und einsame Leben in dem ehemals reichsten Dorf der Westprignitz“ beschreibt. Ein sehr kleines Dorf, eher nur noch eine Siedlung mit 16 Einwohnern. Lütkenwisch, direkt an der Elbe gelegen. Auf der einen Seite des Ufers Brandenburg, auf der anderen Niedersachsen. Mittendrin die heute 65-jährige Kerstin Beck, ein Kind des Dorfes. Sie hat das Buch „Es war einmal … in Lütkenwisch – Ein Prignitzdorf überlebt die DDR-Grenze“ geschrieben, in kindlich-naiver Form. Auf 186 Seiten formuliert sie einerseits ihre Erinnerungen, andererseits finden sich Aussagen, Anekdoten und Sachverhalte wieder, die sie recherchiert hat. Ein Fundus waren die über 300 Briefe, die sie in ihrer Verwandtschaft sammelte. Sie befragte Zeitzeugen und kann auf eigene Aufzeichnungen – ein Tagebuch – zurückgreifen.Dabei herausgekommen ist ein lebendiges, persönliches, authentisches und reich bebildertes Werk. Die Leser können sich auf ein detailreiches und hintergründig-humorvolles Buch freuen.

Kerstin Beck schrieb ein Buch über Lütkenwisch – heute erscheint es

„Ich möchte Lütkenwisch mit dem Buch ein Denkmal setzen“, sagt die ausgebildete Vorgeschichtlerin. Ihrem Heimatdorf, in dem ihre Vorfahren mindestens um 1460 gelebt haben und wo heutzutage kein Haus mehr errichtet werden darf. Der Verfasserin liegt das Dorf extrem am Herzen. In akribischer Arbeit trug sie viele Informationen zusammen; aus Archiven, von älteren Einwohnern, von Verwandten. Ihre Tante, die 1952 mit ihrem Mann aus Lütkenwisch ausgewiesen wurde, hat alle Briefe, die ihre Mutter und ihre Schwester ihr jemals geschrieben hatten, aufbewahrt. Kerstin Beck bekam die Briefe und wertete sie aus. Fand Fotos, die ihre Mutter aufbewahrt hatte, schoss selbst Bilder von den Häusern. Manche stehen längst nicht mehr.

Eines Tages lernte die Prähistorikerin Gerd Heidemann kennen, der als damaliger Redakteur einst die „Hitlertagebücher“ im Auftrag des Stern aufgekauft hatte. „Er wurde mein Vorbild, wenn es um Recherchen ging.“ Den Blickwinkel eines Mädchens wählte die Autorin deshalb, „weil ich als Kind meine schönsten Erlebnisse hatte“. Und sie ergänzt: „Andererseits ist es langweilig und einschläfernd, sich wie ein Schullehrer hinzustellen und zu dozieren, wann hier was geschah. Bücher dieser Art gibt es genug. Ich wollte einfach etwas Besonderes machen.“

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Der Fundus, aus dem Kerstin Beck schöpfte. FOTO: privat

Kerstin Beck ließ ihre Erlebnisse Revue passieren und hielt sich nah an den Fotos: „Ich schrieb um die Fotos herum einfach eine Geschichte. Ich dachte mir dabei aber nichts aus – alles, was im Buch steht, ist wahr.“ Dabei geht es um das alltägliche Leben im ehemaligen 500-Meter-Sperrzonendorf. Beschrieben werden die im Winter unpassierbare Straße, der Dorfkonsum, die Angewohnheiten der Grenzer und Polizisten, das Treiben der LPG-Mitarbeiter und der gefürchteten Stasi, die Essgewohnheiten der Lütkenwischer, und es geht um Westpakete, Westverwandtschaft und das Westfernsehen. Die 78 Kapitel sind kurz und prägnant. Sie haben Titel wie „Nach Lütkenwisch fährt ein Bus“, „Ein Haus wird ermordet“, „Abends wird bei uns Westen geguckt“, „Der Minenstreifen – was ist das?“ oder „Warum die Leute hier alle Stiefel haben“.

Kerstin Beck gestaltete für das Buch sogar den Umschlag. „Es ist eine Seidenmalerei, die den Blick von Osten Richtung Lütkenwisch zeigt. Zu sehen sind darauf Häuser, die es längst nicht mehr gibt“, sagt sie und gibt zu: „Das ist auch der einzige Punkt, an dem ich etwas gemogelt habe. Denn: Was da ganz rechts auf dem Deich zu sehen ist, ist mein Hund Sisyphus, den es zu der Zeit noch nicht gab. Aber das musste einfach sein.“

Die Autorin würde bei einem Zeitsprung 65 Jahre zurück einiges anders machen. „Ich würde Tausende Fotos aus Lütkenwisch schießen. Nicht nur draußen, sondern auch in den Häusern, mit den Menschen und mit ihrem alltäglichen Leben. Ich würde auch den Tieren ein Denkmal setzen – wie etwa Isetta von Lütkenwisch, einer mehrfach preisgekrönten Stute meines Urgroßvaters, die nur eines konnte: sich elegant hinzustellen“. Und sie würde die Ältesten interviewen zu dem, „wie es früher hier war“. Obendrein würde sie sich die Belegung auf dem Friedhof erklären lassen. „Alle diese Dinge, die ich heute mühselig rekonstruieren muss. Obwohl ich – wiederum durch Zufall – einen alten Friedhofsplan bekam.“

Am heutigen 4. Dezember erscheint das Werk im Gabriele Schäfer Verlag, bis es in den Buchläden liegt, kann noch ein paar Tage dauern. Das Buch ist fertig, in der Geschichte von Lütkenwisch hingegen wird es noch einiges zu recherchieren geben. Kerstin Beck wird sich dieser Aufgabe weiter annehmen.

Info: Kerstin Beck: Es war einmal ... in Lütkenwisch – Ein Prignitzdorf überlebt die DDR-Grenze. Gabriele Schäfer Verlag 2020, 186 Seiten, etwa 29 Euro.

Von Stefan Blumberg